Auf begründeten Vorschlag unseres Segelfreundes Thomas Dienberg wurde unser neues Vereinsboot auf den Namen
getauft.
Bine Gaßmann gehört prominent zu den Originalen des alten Göttingen, von denen viele Geschichten und Anekdoten überliefert sind.
Sie wurde am 18. August 1832 als Tochter des Schuhmachers Mählert in Göttingen geboren und auf den Namen Philippine getauft. Sie war zweimal verheiratet/verwitwet. Zu ihrem ersten und
"namengebenden" Ehemann Gaßmann konnte nichts ermittelt werden. Ihr zweiter Ehemann war der Hausknecht in ihrem Geschäft, Carl Saalfeld. Die Anekdote sagt, dass sie Saalfeld nur geheiratet hat,
um Lohn und Krankenversicherungsbeiträge ("Invalidenmarken") zu sparen. Die Anrede "Frau Saalfeld" verbat sie sich. Aus diesem Grund wussten selbst alte Göttinger nicht, dass sie zweimal
verheiratet gewesen ist. Bine Gaßmann starb am 30.5.1909 in Göttingen.
Die kommunalpolitisch sehr interessierte, streitbare Person ist vor allem in Leserbriefen als scharfe Kritikerin der Göttinger Stadtverwaltung in Erscheinung getreten. Da ihre Ansichten in vielen
Dingen von der Mehrheit der Bürger geteilt wurden, nahmen die Kommunalbehörden ihre Meinung trotz ihrer Schrulligkeit durchaus ernst, weil sie „die Volksstimme zu Gehör brachte“ Bine Gaßmann
vertrat die Interessen der „berufstätigen weiblichen Erwerbspersonen“ (damaliges Amtsdeutsch) in den Zeiten ohne Frauenwahlrecht. Göttingen wäre zwischen 1862 und 1909 ohne Bine Gaßmann nicht
denkbar gewesen (Dr. Meinhardt).
In zwei Publikationen von Günther Meinhardt ("Göttinger Originale" und als Fortsetzung davon "Bine Gaßmann : Neue Streiche der Göttinger Originale", Archivbibliothek III B 190 und III B 287)
finden sich zahlreiche Anekdoten zu der seinerzeit in Göttingen stadtbekannten Persönlichkeit. Hier ein Auszug, zusammengestellt von Horst Renner:
Die Stadt Göttingen war zur Zeit Bine Gaßmanns geprägt von der damals 100-jährigen Georg-August-Universität. Wenn sich auch so mancher auf die Gelehrsamkeit in der Stadt etwas einbildete, die
Bürgerschaft in Göttingen, sprach wie auch in Hamburg, Bielefeld und Bremen Messingsch, ein Gemisch aus Hochdüütsch un Plattdütsch. Offenbar neigten die Göttinger damals eher zu Vereinfachungen:
aus dem etwas umständlichen Namen Philippine wurde denn auch bald Pine, und weil selbst das scharfe „P“ für die Göttinger offenbar noch zu beschwerlich war, wurde daraus einfach Bine.
Wenn wir heute glauben, wir lebten in einer Zeit des rasenden Wandels, dann hat Bine Mählert dies zu Ihrer Zeit sicherlich ganz ähnlich empfunden. Zwar hatte sie die Göttinger Revolution vom
Januar 1831 noch nicht miterleben können, aber die politischen Unruhen gärten während ihrer Kindheit weiter. Um die Welt zu verstehen, in der Bine lebte, muss man auch das weitere Umfeld mit in
Betracht ziehen.
Göttingen hatte zu jener Zeit so um die 10.000 Einwohner. Professoren und besonders die meist nicht unvermögenden Studenten bildeten einen auffälligen Kontrast zu den Ackerbürgern, Handwerkern,
Arbeitern und Tagelöhnern. Nicht selten mündete dies in handfeste Auseinandersetzungen in dieser Stadt, in der abends noch die Stadttore geschlossen wurden. Es gab keine Kanalisation und kein
elektrisches Licht. In mondlosen Nächten lagen die Straßen in völligem Dunkel, und Nachtwächter zogen laut rufend ihre Runden. Auf dem Nordturm der Johanniskirche hielt stets ein Wächter scharf
Ausguck, ob sich denn irgendwo in der Stadt ein Feuer erhöbe.
Mit Frühlingsanfang gab es wegen der nahen Leine meistens eine Überschwemmung. Besonders gefährdet war der Wohnbezirk am Groner Tor, der etwas tiefer lag. Gegen die Wasserflut gab es aus
Erfahrung ein sicheres Mittel: Das Tor wurde mit Brettern und Flechtwerk verrammelt und in die Zwischenräume so fest wie möglich Mist eingestampft. Am besten eignete sich Kuhmist. Wenn das Wasser
stieg, wurden auf gleiche Weise auch das Weender- und das Geismartor verrammelt; Zugang gab’s dann nur durchs Albanitor. Tage, manchmal Wochen herrschte dann in der Stadt ein entsetzlicher
Gestank. Bei alten Göttingern heißt der Platz gegenüber der Kommende noch heute „Kauschietenplan“.
Als König Ernst August von Hannover am 1. November 1837 das Staatsgrundgesetz aufhob und die alte Verfassung von 1819 wiederherstellte, kam es zu dem berühmten Protest der Göttinger Sieben, der
sicherlich für Diskussionen auch im Hause der Fünfjährigen geführt haben dürfte.
Vielleicht trug Bine den Namen Gaßmann schon, als am Montag, dem 31. Juli 1854, am neu errichteten Bahnhof die Strecke Alfeld-Göttingen der Hannöverschen Südbahn mit einer volks-festartigen
Einweihung in Betrieb genommen wurde. Bine hat jedenfalls um diese Zeit, in der sich ein grundlegender Wandel in der Stadt ankündigte, einen Arbeiter oder Stiefelputzer dieses Namens geheiratet
und dessen Namen angenommen. Über den Ehemann ist nichts Näheres bekannt.
Als energische Frau, die vor nichts und niemandem Respekt hatte, machte sie einen Trödelladen auf und bezeichnete sich als Althändlerin.
In ihrem Laden war ein Hausknecht namens Carl Saalfeld mit niederen Aufgaben beschäftigt. Der wischte den Fußboden, holte auf dem Plattenwagen den Trödelkran zusammen und fuhr ihn auch zu den
Käufern. Obwohl Saalfeld viel jünger als Bine war, heiratete Sie ihn, und der Laden führte nun seinen Namen, obwohl er nichts, aber auch gar nichts zu bestimmen hatte. Böse Zungen behaupten, sie
habe dies nur getan, um dessen Lohn und die Krankenversiche-rungsbeiträge einzusparen.
Scharwächter Müller beschrieb das Verhältnis:
„Es Bine cheht wie immer mit ihren chroßen Hund aufm Bürjerstaach nebenher un kommandiert in aaner Tour ‚Saalfeld, mer rechts’ oder ‚Saalfeld, mer links, siehst Du Döskopp nich das Färd?’
Näänää, Verliebtheit mit küssen un ßo war nich ßu merken.“
Bine Gassmann selber, die sich entschieden verbat, mit Saalfeld angeredet zu werden, soll sich dazu geäußert haben:
„Ja, es is’ teuer, aber da hat bloß er Bismarck an schuld. Waaste nich, dass er jetzt von alle Arbaatcheber verlangen will, dass se vor de Arbaater Invalidenmarken kläben. Nänä, ich nich, vor den
Faulpelz, den Saalfeld, noch Marken kläben, nä, ich haarate ihne Saalfeld, dann lass den ßusehn, wo er ßaane Marken herkriecht.“
Die Hochzeit von Bine Gaßmann wurde dann zu einem Volksfest. Als die Glocken läuteten, gab es dann allerlei Kommentare:
„Au Backe, jetzt cheht’s los!“ oder „Saalfeld, Du Döllmer, flieh, noch is Zaat!“
Als dann der Hausknecht sein „Ja“ gesprochen hatte, hörte man die Stimme eines frechen Leutnants:
„Janz famos, auf Ehre, der Mann verdient das Eiserne Kreuz!“
Als während des Deutschen Krieges 1866 der blinde Georg V. von Hannover im Juni seine Truppen gegen Preußen in Göttingen zusammenzog, hat Bine Gaßmann ihren König und den Kronprinzen leibhaftig
betrachten können, als die beiden am Samstag, dem 16. Juni, ihr Quartier in der „Krone“, Weender Straße 13/15, bezogen. Das königliche Wappen ist noch heute am Haus zu sehen. Wie die Schlacht bei
Langensalza wenige Tage später ausging ist bekannt. Als am 22. Juni dann preußische Truppen in Göttingen einrückten und wenig später nach der Schlacht (25. Juni) Hannover an Preußen fiel, gab es
in Göttingen keine nennenswerte Opposition gegen das Preußischwerden.
Zwei Jahre später begann in Göttingen eine neue Ära, und Bine Gaßmann bekam eine neue Zielscheibe. Julius Philipp Georg (Schorse) Merkel, wurde 1868 vom Magistrat der Stadt vom preußischen
Ministerium des Innern in Berlin als Stadtsyndikus nach Göttingen berufen, zwei Jahre später in die Funktion des Bürgermeisters gewählt, und 1885 wurde er Oberbürgermeister der Stadt Göttingen.
Merkel veränderte die Stadt wie kaum ein Amtsträger vorher und nach ihm. Merkel hatte Bines loses Mundwerk schon während seines Jurastudiums in Göttingen kennen gelernt und war nun auch als
„Oberschorse“, wie er im Volksmund genannt wurde, vor ihren Verbalattacken nicht sicher.
Seine in rascher Folge angegangenen Maßnahmen kosteten die Stadt enorme Geldsummen, und damit war Bine Gaßmann in den meisten Fällen überhaupt nicht einverstanden. Da sie auf den Straßen und vor
allem in Leserbriefen immer wieder ungeniert ihre Meinung zu allen Maßnahmen des Magistrats in aller Deutlichkeit rausposaunte, wurde sie von den politisch Handelnden als scharfe Kritikerin
durchaus ernst genommen, sprach sie doch aus, was viele andere dachten, sich aber nicht öffentlich zu äußern getrauten.
Merkel begann z. B. 1871 mit der Aufforstung des Hainbergs, die erst 1893 abgeschlossen wurde. Wichtige Infrastrukturmaßnahmen der Stadt fallen in seine Amtszeit als Oberbürger-meister: so die
zentrale Wasserversorgung (1877) und die moderne Entsorgung der Abwässer (1890). Die Stadt erbaute zahlreiche Schulen und förderte den weiteren Ausbau der Georg-August-Universität, die sich eines
schnellen Wachstums und internationaler Anerkennung erfreuen konnte. Kulturpolitisch herausragend war für die Stadt der Bau des Deutschen Theaters (1890). Nicht weniger wichtig der neue
Zentralfriedhof (1880), der kommunale Schlachthof (1883), die Desinfektionsanstalt (1884), die Sanierung des Alten Rathauses (1883) und auch 1908 die Feuerwache am Ritterplan.
Wenn Bine Gaßmann nun zu allem und jedem ohne Rücksicht ihre ungeschminkten Kommentare abgab, blieb es nicht aus, dass so mancher danach trachtete, es ihr bei passender Gelegenheit
heimzuzahlen.
Eines Tages war mal wieder Jahrmarkt in der Stadt. Als eine der Attraktionen konnten gegen 20 Pfennig Eintritt leibhaftige Menschenfresser bei der Fütterung mit rohem Fleisch beobachtet werden.
Immer neugierig, ließ sich auch es Bine das Spektakel nicht entgehen. Sie erblickte vier schaurig tätowierte braunhäutige Unholde, die mit gierigen Blicken das Herrichten ihrer Mahlzeit
verfolgten.
Um sich davon zu überzeugen, ob die Menschenfresser auch wirklich rohes Fleisch verschlangen, wagte sich die Trödlerin zu dicht heran, wurde im Nu gepackt und an das Gitter gezerrt. Die Göttinger
verfolgten gespannt das unerwartete Schauspiel; keine Hand rührte sich für Bine, aber lautstarke Zurufe waren zu vernehmen:
„Chuten Appetit!“ wünschte ein Bürger freundlich, und als der Schausteller dem Treiben mit ein paar Peitschenhieben Einhalt gebieten wollte, rief ein anderer:
„Nu lass doch die Wilden es Bine fressen, wenn’s schmeckt!“
Kaum zu glauben, aber Bine hatte offensichtlich die Sprache verloren und suchte schleunigst das Weite.
Der Winter 1884/85 setzte erst sehr spät ein und brachte dann grimmige Kälte und hohe Schneeverwehungen. Die dicken Steinmauern der neu errichteten Häuser an der Herzberger Landstraße mussten
darum zum Austrocknen mehrmals durchwärmt werden. Wenn es in jenen Zeiten auch üblich war, zwei Zimmer mit einem Ofen zu beheizen, ließ sich das nun nicht mehr durchhalten, und es wurden
zusätzliche Öfen benötigt.
Eines schönen Morgens rollte denn auch der Ofensetzermeister samt Gesellen auf einem mit kräftigen Pferden bespannten Wagen, beladen mit 20 neuen Kanonenöfen die Herzberger Landstraße hinauf. Die
Buttcher einer Schneeräumkolonne waren gerade mit einem Entgelt überredet worden, beim Abladen der Ofenrohre zu helfen, als der Meister es Bine Chaßmann herannahen sah.
Der Meister dirigierte mit lauter Stimme seine Helfer, fand aber noch Zeit, dem alten Pape zuzuflüstern; „Wolln se sich ne Mark un ne chute Szijarre verdienen? Da kommt es Bine Chaßmann. Se is
maane Kundin un se hat im Herbst zwaa Öfen chekauft un chlaach alles bar auf’en Tisch, aber ich war halb dot un erledicht. Ärjern Se se tüchtich un aane Mark is Ihre.“
„Es Bine ärjern, is jedem Beamten trotz Aad chestattet“, bestätigte der Scharwächter.
Der Meister zog die Mütze: „Chuten Morjen, Frau Chassmann; sinn’ Se denn mit maane Öfen ßufrieden?“
„Oh ja, sogar sehr“, erwiderte es Bine freundlich.
„Das freut mich aber“, mischte sich Pape ein, „der hohe Marestraat un’ das Bürjervorsteherkollejium haben nämlich aanstimmich beschlossen, zwaahundertfuffzich Kanonenöfen zu kaufen, ich stelle
chrade mit maane Kolonne de ersten auf.“
Der Ofensetzermeister nachte sich rasch aus dem Staube, und tatsächlich, biss die neugierige Bine auf den billigen Köder an und fragte erstaunt:
„Nu ßag bloß aaner, woßu braucht die Stadt zwaahundertfuffzich Öfen?“
„Das darf ich nicht verraten!“
„Auch nicht for’n Trinkgeld?“
„Nänä, erstens darf ich nischt nähmen, un’ dann es soll doch ’ne chroße Überraschung for de Bürjer werden!“
Bine traute ihren Ohren nicht: „ Aane Überraschung for de Bürjer? Baa ihne Merkel ßinn wer ja manche Überraschung chewöhnt cheworden, aber mit Öfens? Ich muss es wissen. Hier, aane Mark!“
Schnell griff Pape zu und raunte: „Der Marestraat lässt jetzt de Straaßen haazen, damit de Bürjer nich mer frieren. Wir fangen jetzt hier an, un in de nächsten Taaren kommen alle anderen Straaßen
an de Raahe.“
Bine blickte ihn an, als sei er nicht ganz bei Verstand.
„Also, wenn ich hier nich die Öfen sähe, chlaubte ich es nich, aber baa ihne Merkel is allens möglich, was das Cheld des zahlenden Bürjers kostet. Dem werd ich ma de Meinung sagen. Chlaach cheh
ich aufs Rathaus.“
„Du wirst doch nicht, Bine!“ rief Pape erschreckt, der sich schon im Kittchen sah, „wenn ich’s mich recht überläje stammt der Plan von Szenater Eberwaan ...“
„Das chlaube ich sowieso“, schrie Bine wütend, „dass der dahinter steckt. Der Sülzenfresser soll mich kennen lernen!“
Wenige Minuten später stürmte sie aufgeregt in das Zimmer des Senators.
„Is“ das wahr, dass Szie die Öfens chekauft haben?“ rief sie ihm zu.
„Na fraalich“, erwiderte der erstaunt, denn die Stadtverwaltung hatte wirklich zwei neue Zimmeröfen kaufen müssen.
„Szo,ßo, das wird also chanz ruhich zuchecheben. Un woßu braucht die Stadt die Kanonenöfen?“
„Kanonenöfen?“, wunderte sich Eberwein. „Nänä, schöne chroße Öfen, die aahne Raahe von Jahren halten sollen!“
Nun war bei Bine das Maß übervoll. Sie öffnete die Schleusen ihrer Beredsamkeit und ließ auf den greisen Senator eine Strafpredigt herniederprasseln, wie er noch keine gehört hatte.
Als Bine irgendwann erschöpft eine Pause machte, sagte Eberwein kopfschüttelnd:
„Ach, ich waaß man char nich, ich habe immer Straßenhaazung verstanden, nu sach noch ma die chanze Cheschichte langsam.“
Bine gehorchte und sein Gesicht wurde immer freundlicher. Endlich stand er ächzend auf und klopfte ihr auf die Schulter:
„Ach, Bine, ich wusste ja, Du bist un blaabst die dümmste Chans von Chöttingen. Szo aanen Blödsinn ßu glauben, un dann noch ne Mark for ßu ßahlen!“
Am Abend passte er den alten Pape ab: „Komm, hier haste aanen Dahler, un nu verschwinde bloß, Du Straßenhaazer!“
Bevor Bine am 30. Mai 1909 in Göttingen starb, gab es im Februar jenes Jahres ein ganz schlimmes Hochwasser in der Stadt. Es wurde nicht mehr mit Mist abgedämmt, aber es muss Bine Gaßmann dennoch
gestunken haben, weil die Stadtväter dies nicht verhindern konnten.
Quellen:
Stadtarchiv Göttingen
Dr. Günther Meinhardt, "Bine Gassmann - Neue Streiche
der Göttinger Originale"
August Tecklenburg, "Göttingen – Geschichte einer
deutschen Stadt"